Muren: eine Analyse von Prof. Piero Gianolla

Der Geologe Piero Gianolla, Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats der Stiftung Dolomiten UNESCO, hilft uns dabei, die Ereignisse in der Nacht vom 15. auf den 16. Juni in Cancia, einem Ortsteil der Gemeinde Borca di Cadore (Belluno) besser einzuordnen und in einen größeren Zusammenhang zu stellen. Heftige Regenfälle hatten dort erneut eine Mure ausgelöst, die das Dorf bedroht. Wie die Verwaltung der Provinz berichtet, konnten die in den vergangenen Jahren umgesetzten Schutzmaßnahmen das Schlimmste verhindern. Dennoch musste die Bevölkerung erhebliche Schäden an ihren Häusern hinnehmen. Bei der Analyse des Phänomens und seiner Folgen spielen in diesem Fall, wie auch in vielen andere Orten der Dolomiten, geologische, geomorphologische, klimatische sowie anthropogene Aspekte eine Rolle.

La colata detritica a Cancia di Borca di Cadore del 15/16 giugno 2025

Professor Gianolla, die Bilder der Mure von Cancia zeigen deutlich, mit welch ungeheurer Wucht sich Muren ins Tal stürzen und dabei riesige Felsbrocken mitreißen können. Beginnen wir mit der Definition: Was genau ist eine Mure und warum ist sie ein typisches Merkmal der Dolomiten?

Eine Mure, auch „debris flow“ genannt, ist eine spezielle Form eines Erdrutsches. Sie entsteht, wenn große Mengen an Geröll, das heißt eine Mischung aus Wasser, Schlamm, Sand, Kies und auch große Steinblöcke, plötzlich in Bewegung gesetzt werden und wie eine zähe, schwere Masse talwärts fließen.

Man kann sich das wie einen Fluss aus Schlamm und Steinen vorstellen, der sich mit enormer Geschwindigkeit und zerstörerischer Kraft in Bewegung setzt. Es handelt sich um ein sehr schnelles und extrem gefährliches Phänomen, das tonnenschwere Blöcke auch sehr steile Hänge hinuntertragen kann.

Warum tritt dieses Phänomen in den Dolomiten und speziell in Orten wie Cancia in der Gemeinde Borca di Cadore so häufig auf?

Die Erklärung liegt in der Geologie dieser Gebirgslandschaft. Die Dolomiten bestehen größtenteils aus Karbonatgesteinen – Kalkstein und Dolomitengestein. Diese sind sehr bruchanfällig und in bestimmten Bereichen ist das Gestein zusätzlich durch Verwerfungen stark zerklüftet. Das führt dazu, dass sich entlang der Hänge, vor allem in Rinnen und an erosionsanfälligen Hängen, viel loses Gesteinsmaterial ansammelt.

Hinzu kommt das alpine Klima: Heftige, oft plötzlich auftretende Regenfälle, die infolge des Klimawandels immer häufiger auftreten, können diese Geröllansammlungen rasch mit Wasser durchtränken. Sobald der Wasseranteil hoch genug ist, um die Reibung zwischen den Teilen zu verringern, verliert die Masse ihre Stabilität und stürzt als Mure talwärts.

Der Fall von Cancia ist ein sehr anschauliches Beispiel: Es handelt sich um einen wiederkehrenden Erdrutsch, der Geologen wohlbekannt ist und in der geologischen Kartierung beschrieben wird. Er hängt mit der besonderen geologischen Beschaffenheit des Gebiets sowie dem äußerst empfindlichen Gleichgewicht zwischen Boden, Wasser und Hangneigung zusammen. Verschiedene Schutzmaßnahmen wurden umgesetzt, doch ein starkes Gewitter reicht aus, um das Gleichgewicht zu stören und zerstörerische Ereignisse wie jenes im Juni 2025 auszulösen.

Wenn der Regen der Auslöser ist, welche Faktoren führen dann dazu, dass sich im Oberlauf so viel Material ansammelt? Gibt es natürliche Gründe, warum bestimmte Berge, wie der Antelao, besonders viel Geröll produzieren?

Ja, starke Niederschläge sind zwar oft der unmittelbare Auslöser für Muren, aber der eigentliche „Treibstoff“ für diese Ereignisse ist das oben in den Becken angesammelte Geröll. Genau hier kommen die geologischen und morphologischen Eigenschaften der Berge ins Spiel.

Nehmen wir den Antelao, einen markanten und geologisch aktiven Berg der Dolomiten, als Beispiel. Ähnliches gilt auch für die Croda Marcora und die umliegenden Gipfel. Dass hier besonders große Mengen an Schutt entstehen, ist kein Zufall, sondern auf verschiedene Faktoren zurückzuführen:

  • Zerklüftetes Gestein: Der Antelao besteht größtenteils aus Gesteinen des Hauptdolomits und anderen Karbonatgesteinen aus dem Jura, die leicht brechen, nicht zuletzt auch aufgrund tektonischer Brüche (Verwerfungen). Dadurch wird die Zerkleinerung des Gesteins zu Blöcken, Kies und Sand begünstigt, die sich in Rinnen und Mulden ansammeln.
  • Starkes Gefälle: Die Hänge des Antelao und der umliegenden Berge, die von Borca di Cadore bis Cortina d’Ampezzo die orografisch linke Seite des Boite-Bachs prägen, sind äußerst steil. Dies beschleunigt gravitative Erosionsprozesse und begünstigt das Ablösen und die Ansammlung von Material in den Mulden.
  • Schrumpfende Gletscher und schwindender Permafrost: Auch wenn der Antelao-Gletscher inzwischen stark geschrumpft ist, destabilisieren die Prozesse, die mit dem Gletscherrückgang und dem Auftauen des Permafrosts zusammenhängen, zusätzlich die Felswände. Wenn das Eis verschwindet, das zuvor die Gesteinsblöcke zusammenhielt, wird die Frostverwitterung wieder aktiv, die Hänge werden instabiler und Felsstürze nehmen zu, vor allem jetzt, wo im Zuge des Klimawandels (ich würde den Begriff „Klimakrise“ bevorzugen) die Temperaturen und die Nullgradgrenze weiter ansteigen. Besonders betroffen sind südexponierte Wände.
  • Mulden- und Rinnenstruktur: Die Form des Berges begünstigt die Anhäufung von Geröll in Mulden und Rinnen. Mit der Zeit füllen sich diese bis zu einem kritischen Punkt. Dann genügt ein Starkregen, um das gesamte Material in Bewegung zu setzen.

Anders gesagt: Manche Berge, wie der Antelao, sind aus strukturellen und klimatischen Gründen regelrechte „Schuttfabriken“. Die Becken im Oberlauf wirken wie Speicher, die sich langsam füllen und plötzlich entleeren. Diese Mechanismen zu verstehen, ist nicht nur für die Erforschung der Dolomitenlandschaft von grundlegender Bedeutung, sondern auch für die Planung der Risikoprävention im Tal.

Welche Bedeutung bekommt der Begriff „Anpassung“ in diesem Zusammenhang?

Die plötzlichen und intensiven Regenfälle, die wir immer häufiger erleben, sind eine klare Folge des Klimawandels. In diesem Kontext bedeutet Anpassung, anzuerkennen, dass sich bestimmte Phänomene nicht vermeiden lassen, man aber besser mit ihnen umgehen kann, indem man ihre Auswirkungen abschwächt.

Schutzmaßnahmen sind dabei unerlässlich, nicht nur, um bewohnte Gebiete zu schützen, sondern auch um die Sicherheit der Bäche im Talboden zu gewährleisten. Eine Mure kann den Flusslauf verklausen, das Wasser umlenken und dadurch auch in scheinbar nicht gefährdeten Gebieten Schäden verursachen. Ein integrierter Ansatz, der das gesamte Berg- und Gewässersystem berücksichtigt, ist deshalb wichtig.

Trotz der Schutzmaßnahmen bleibt ein Restrisiko bestehen. Deshalb ist es entscheidend, dass bei der Planung eines Projekts zur Eindämmung dieser Phänomene, die Menschen einbezogen werden, die in den Bergen leben und sie seit jeher hüten. Dabei ist jedoch zu bedenken, dass das, was wir heute mit der Klimakrise erleben, im Vergleich zur Vergangenheit etwas völlig Neues ist.

Anpassung bedeutet, ein sichereres, widerstandsfähigeres Gebiet zu schaffen, das mit einer sich wandelnden Natur koexistieren kann. Kurz gesagt, Anpassung bedeutet Planung unter Berücksichtigung einer sich verändernden Realität, um ein widerstandsfähigeres und weniger verwundbares Gebiet zu schaffen. Die Dolomiten, mit ihrer Verletzbarkeit und Schönheit, erinnern uns jeden Tag daran, wie dringend das ist.