Sagen der Dolomiten
Mit Unterstützung des Istitut Cultural Ladin “Majon di Fascegn”
stellen wir Ihnen heute die vierte Sage vor:
“La bipera dal melaur“
Handlungsort der Sage, die hier heute mit Unterstützung des Istitut Cultural Ladin “Majon di Fascegn” vorgestellt wird, sind die Roggenfelder zu Füßen des Sas de le Strie. Unsere heutige Geschichte stammt aus einer Zeit, als die Landschaft und die Tiere ein fester Bestandteil des Alltagslebens der Bergbevölkerung waren und die Erhaltung der Umwelt noch mehr als heute die wichtigste Voraussetzung für das Überleben und einen bescheidenen Wohlstand darstellte. Wie schon im Falle früherer Sagen (Die Hexen von Germanien, die Waage der Orsola Baranza und La Reduoia) wurde auch diese Sage in ihrer ursprünglichen Sprache, dem fassanischen Ladinisch, erzählt. Das fassanische Ladinisch ist geschützt, wird noch gesprochen und über das Istitut Cultural Ladin “Majon di Fascegn” an die neuen Generationen weitergegeben.
Das Istitut Cultural Ladin “Majon di Fascegn” ist eine kulturelle Einrichtung zur Unterstützung der ladinischen Bevölkerung. Es ist eine Körperschaft der Autonomen Provinz Trient und wurde 1975 gegründet. Sitz ist San Giovanni in der Gemeinde Vigo di Fassa. Das Istitut Cultural Ladin “Majon di Fascegn” hat zahlreiche Aufgaben, unter anderem das Sammeln, Ordnen und die Untersuchung von Materialien zur Geschichte, der Wirtschaft, der Sprache, der Folklore, der Mythologie und der Bräuche und Traditionen der Ladiner. Im Juli 2001 wurde der neue Sitz des Ladinischen Museums des Fassatals eröffnet, in dem die ethnografischen Sammlungen des Ladinischen Kulturinstituts ausgestellt werden. Von hier aus gelangt man zu mehreren anderen thematischen Museen (Museo sul territorio).
Ladin
La bipera dal melaur (Hugo de Rossi)
Na uta l’à vedu na beza na biscia, che aea na raza de corona sul ciaf. La se à sperdù de bel, ma ampò la é jita a pe de chista bestia, per veder che che la à sul ciaf. Te chela la bipera é sciampada te n busc ite, mo la se à perdù la corona. La beza se la à coet sù e la l’à metuda te garmial. Ruada a ciasa la aea l Garmial pien de or.
L Melaur (Giovanni Bernard de Cechinol, adattamento a cura di Istitut Cultural Ladin)
N’outa l’era na pera vedova con cater picioi, i ge dijea Toratìa de Fin; per mantegnir sie picioi la jìa duc i egn uraa d’aisciuda a grazèr cà, a jerjenèr dò, a remonèr, a ge dèr tera, a grazèr patac e a seslèr; l’uraa più valenta che i podea ciapèr, la jìa te ciamp de duta bonora, fin net tèrt e la fajea ence la mamana. Con dut chest struscièr la se tirèa inant penamai sia familia.
Na dì che la seslèa te n ciamp, na picola biscia ge sutèa tras dintorn la sesla. La femena ge disc:
“Vatene, biscia, che no te tae!”
Ma no contèa nia dir chest tant, la biscia la era semper dintorn la sesla. Toratìa no la la volea mazèr e la ge disc:
“Vatene, picola biscia, che canche i te porta chi piciui vegne pa ben a t’i tor sù”.
Sentù chest, la biscia la é se n jita e no la l’à più veduda. Vegn d’uton e na sera, dò che l’èa metù si picioi a dormir, Toratìa se à senta jù apede fonestra, canche l’à vedù vegnir su per strèda na lum e la se disc:
“Chi sarèl pa mai che vegn cassù co na scì gran lum?”
La speta mìngol, enscin a canche la lum ruèa semper più apede cèsa e l’à vedù n picol om co na gran linterna sul cef che vegnìa su per scèla. Canche l’à sentù bater te usc, Toratìa sperduda l’à domana chi che l’era e i ge à responet:
“No aer paura, Toratìa, che no te fae nia. Son chela picola biscia che te jìa dintorn la sesla e te me èes emprometù che se me n jìe te vegnìes a me didèr. Ades fossa ora, te pree gei, che per nia no te farès”.
La femena se à tout na fascia e dotrei picola robes e la é se n jita con chest picol om, el dant con sta gran linterna sul cef e ela dò. I é passé fora per na bela strèda e ju enscin Sas da la Stries. I é jic ite per n picol usc e i é rué te na cambra olache l’era n bel fon net e doi picui lec coi lenzei bienc che i saea amò da lesciva. Te let l’era na picola femena che ge à preà a Toratìa de ge tor sù i picioi che cognea nascer. Te n sènt e amen co l’aiut de Toratìa l’é nasciù doi jomelins.
Emben chel picol om ge à dit che l’era ora de ben la paèr e che no l’aessa più abù brea de cainèr. I la envìa sora desch olache l’era dededut, chel che chi egn i saea far da bon: supa da liènies, ciajoncìe, grostui, tortìe e ence fortaes. Amò apede l ge à enjignà na gran sportola con ite de bona speisa da ge portèr a sie picioi famé e l ge disc:
“Toratìa, detelpai ben fort, te me ès fat n bel servije e te voi paèr belimpont. Te dae sta picola siessena biencia: chest l’é l Melaur, se te l metes te la farina da sera, da doman te n’arès pien crigna, se te l metes te la bièva dadoman, da sera te n’arès pien èrcia e con dut coscita. Ma recordete ben e bel, no sacramentèr, no biastemèr, percheche se te l fèsc, l Milor l te sciampa e no te l ciapes più!”
Toratìa la ge disc telpai, la augurea amò la bona fortuna e la se n va a cèsa. Sobito la ciola l Melaur te n bech de n fazolet, la và jù te cèvena e la l met te l’èrcia mesa veta de la bièva. Dotrei dis dò la va jù a vardèr te èrcia e… marevea! No la podea creer a si eies, la no èa mai vedù tanta bièva duta te n’outa! Duta contenta, la se ciarea trei sté de sièla e la va te molin a fèr majenèr, ma da la gaissa la se desmentia de tor fora l Melaur. L molin scomenza a majenèr la sièla e majena, majena, sta sièla no la fenìa più. L molinè l’era maraveà de duta chela farina e canche rua Toratìa l ge disc:
“Ma sacranon, vèrda dintorn, l’é trei sté e vèlch, duc i fons piens, duta la moutres pienes, duc i vajui piens e amò un marudel te n piz de molin. Ma corpo de diaol, che èste metù te sta bièva? Sarèla fosc strionèda?”
No l’èa nience amò fenì de dir chesta paroles che l molin scomenza a sclindernèr, glin, glin, glin… e fora per usc de roda da molin sgola demez n picol ucel bianch.
“Madre santa, mio Dio te ès biastemà, sciampa l Melaur, me sciampa l Melaur!” ciga destrametuda Toratìa.
Ma l’era massa tèrt, l Melaur no l’era più da veder, Toratìa no la lo aessa mai più vedù e mai più l’aessa abù richeza e bondanza.
Deutsch
La bipera dal melaur (Übersetzung mit Unterstützung des Istitut Cultural Ladin)
Toratia de Fin war eine arme Witwe und Mutter von vier Kindern. Sie führte ein karges Leben und arbeitete im Frühjahr als Erntehelferin auf den Feldern, um ihre Kinder zu ernähren. Sie begann morgens bei Sonnenaufgang und kehrte nicht vor Sonnenuntergang nach Hause zurück. Sie war auch eine sehr gute Wäscherin und bei Bedarf arbeitete sie auch als Hebamme. Trotz ihres mühevollen und arbeitsreichen Lebens konnte sie sich und ihre Kinder kaum ernähren.
Eines Tages mähte sie in einem Roggenfeld, als eine kleine Schlange auf sie zukroch. Toratia versuchte, das Tier zu verscheuchen, was ihr nicht gelang; die Schlange floh nicht nur, sondern versuchte sogar, sich um die Sichel der Frau zu wickeln.
Toratia rief ihr zu: “Verschwinde, Schlange, ansonsten wirst Du dich noch schneiden!“
Allein, es war umsonst; das Tier ließ sich nicht verscheuchen und umschlang weiterhin die Sichel. Toratia wollte der Schlange kein Leid zufügen, und um es zu verscheuchen, sagte sie ihr schließlich: ”Jetzt kriech weg, lass mich fertig mähen, dann werde ich dir helfen, deine Kinder auf die Welt zu bringen, wenn es an der Zeit ist.“ Da verschwand die Schlange zwischen den Roggenhalmen. Der Sommer ging vorüber, es kam der Herbst, und eines Abends, nachdem Toratia ihre Kinder zu Bett gebracht hatte, stand sie an ihrem Fenster, als sie ein Licht auf sich zukommen sah, das sich immer mehr ihrer Hütte näherte, bis es an der Tür klopfte. Sie erschrak und fragte, wer zu so später Stunde noch Einlass begehre.
„Hab keine Angst, Toratia, ich werde dir kein Leid zufügen. Ich bin die Schlange, die sich damals um deine Sichel gewickelt hat. Folge mir jetzt, es ist an der Zeit, dein Versprechen einzulösen. Komm mit mir und du wirst reich dafür belohnt werden.“
Die Frau nahm ihre Sachen und folgte der Schlange und ihrer großen Laterne, die diese auf dem Kopf trug, bis sie vor dem Sas de le Strie standen. Durch einen kleinen Spalt gelangten sie in das Innere des Berges in ein schönes, sauberes und ordentliches Haus. Im Schlafzimmer lag eine Frau im Bett, die kurz vor der Entbindung stand. Toratia erkannte sofort, was zu tun war, und in kurzer Zeit kamen zwei Zwillinge zur Welt. Das seltsame Wesen lud sie zu einem üppigen Abendessen ein; noch nie in ihrem Leben hatte Toratia so viele Köstlichkeiten gesehen. Nach dem Essen erhielt sie einen Korb voller Speisen für ihre Kinder und eine goldene Murmel. Dazu sagte ihr die Schlange: “Das ist der Melaur, der dir Reichtum und Überfluss schenken wird. Leg ihn am Abend ins Getreide, und du wirst am nächsten Morgen Getreide im Überfluss haben. Aber aufgepasst: fluche nicht, ansonsten wird der Melaur wegfliegen und du wirst ihn nie mehr wiedersehen!“
Toratia dankte ihr von Herzen, nahm die Geschenke der Schlange entgegen und kehrte überglücklich zu ihren Kindern zurück. Sie legte die goldene Murmel in ein Taschentuch und gab sie in die halbleere Kiste im Keller, in der sie den Roggen aufbewahrte. Sie legte sich schlafen und am nächsten Morgen konnte sie kaum ihren Augen trauen, soviel Roggen befand sich in der Kiste! Außer sich vor Freude packte sie drei Sester in einen Sack und lief zum Müller, vergaß jedoch in der Aufregung, den Melaur aus dem Sack zu nehmen. Der Müller begann sofort, den Roggen zu mahlen. Er mahlte, mahlte und mahlte, aber der Roggen war nie fertig. Einige Tage später kehrte Toratia zum Müller zurück, um ihr Mehl abzuholen. Der Müller fragte sie ganz erstaunt:
„Sieh mal, wieviel Mehl! Zum Herrgott! Was zum Teufel hast Du in diesen Roggen getan?“
Er war noch nicht mit dem Reden fertig, als das Mühlrad immer lauter ratterte und rüttelte und ein kleiner Vogel mit vergoldeten Flügeln aus dem Fenster flog:
„Oh mein Gott, oh mein Gott“, rief Toratia „du hast geflucht und der Melaur flüchtet!“
Doch es war schon zu spät, der Melaur blieb verschwunden. Toratia würde ihn nie mehr wiedersehen und nie mehr in Überfluss und Reichtum leben.